Mit tausend Schafen über die Alpen

Der Schnalstaler Schafauftrieb

„Bim-BIM-Bim…mäh-MÄH-mäh“ klingt es in meinen Ohren, als ich am Abend im Bett liege und die Augen schließe. Es ist der Klang von Glöckchen und Schellen, Schafen und Lämmern. Ein ohrenbetäubendes Durcheinander, zu dem ich frühmorgens gestoßen bin. Und das mich den ganzen Tag begleitet hat. Es ist der Klang vom wohl außergewöhnlichsten Nutztier-Auftrieb im Alpenraum:

Jedes Jahr Anfang Juni brechen die Schnalstaler Bauern auf, um mit ihren Schafen zu den Weidegründen im hinteren Ötztal zu gelangen. Auf dem Weg von Südtirol nach Tirol wird nicht nur die italienisch-österreichische Landesgrenze überschritten, sondern auch der Alpenhauptkamm.

Und der hat’s durchaus in sich: Die Route führt uns und gut 1.000 Schafe über das 3.019 Meter hohe Niederjoch. Eine Woche später geht es für einen zweiten Schafstrupp – nur wenige Kilometer weiter westlich, über das Hochjoch – ebenfalls auf die Tiroler Sommerweiden. Insgesamt ziehen so jedes Jahr etwa 3.000 Tiere über die Alpen.

Dazu heißt’s zeitig aufstehen: Noch in der Dunkelheit, morgens um vier, geht der Schafauftrieb los. Schon am Vorabend wurden die Schafe am Vernagtstausee gesammelt. Zunächst geht es sanft ansteigend das Tisental hinauf; dort können die Böcke, Mutterschafe und Lämmer während der ersten Stunden immer wieder auch ein wenig fressen. Doch dann, unterhalb vom Tisenjoch, wird’s steil.

Diese Route ist vor allem im Sommer viel begangen: Von jenen, die die Ötzi-Fundstelle besuchen wollen. Von Bergsteigern, die es auf den Similaun zieht. Und vor allem von vielen Fernwanderern, die auf dem E5 von Oberstdorf nach Meran unterwegs sind.

Jetzt allerdings liegt noch Schnee. Viel Schnee. Ohne die Helfer, die vornweg den Pfad freischaufeln, würde wohl gar nichts gehen. Der Aufstieg ist so lang wie anstrengend. Hier und da gibt es sogar kurze, ausgesetzte Stellen, die die Schafe aber trotz Schnee nahezu beneidenswert gut wegstecken. Trotzdem ist der Schafübertrieb nicht ganz ungefährlich; vor allem, wenn das Wetter schnell umschlägt und Nebel aufkommt, können schon mal Tiere abhanden kommen. Glücklicherweise passiert das selten.

Schnalstal Schafauftrieb Ötztal Similaun (8)

Heute geht alles gut. Hirten, Treiber und Helfer genießen dann auch die ausgiebige Pause an der noch im Frühlingsschlaf schlummernden Similaunhütte. Und gemeinsam mit den Schafen können alle die Nase in die Sonne strecken.

Als sich von Süden dicke Wolken vor die Sonne schieben und das Wetter von einer Minute auf die andere kippt, werden wir wieder alle daran erinnert, wo wir uns befinden: Im Hochgebirge. Auf einer beachtlichen Höhe und derart weit weg von allem, dass man froh ist, wenn die Bedingungen nicht allzu garstig werden. Wir haben Glück – ein kurzes Schneeflocken-Intermezzo – und schon bald wird es bei jedem Schritt hinunter Richtung Martin-Busch-Hütte wärmer.

Gerade diese rauen klimatischen Bedingungen lassen es umso bemerkenswerter scheinen, dass der Schaftrieb zwischen dem Schnalstal und dem Ötztal eine sehr, sehr lange Tradition hat. Seit gut 600 Jahren schon haben die Schnalstaler verbriefte Weiderechte oberhalb des tirolerischen Vent und ziehen Sommer für Sommer aufs Neue mit ihren Schafen los. Mehr noch: Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Menschen hier schon seit rund 6.000 Jahren über die Berge hin und her wandern.

Im Schnalstal selbst ist es zu trocken und zu eng, so dass es nicht genügend Weidefläche für die Tiere gäbe. Deshalb jedes Jahr der Treck. Gemeinsam mit den Schafen aus dem Schnalstal ziehen auch Schafe aus dem Vinschgau, dem großen Nachbartal im Süden, mit nach Tirol. Diese Tiere und Hirten haben, als sie morgens am Vernagt-Stausee losgehen, also bereits zwei Tagesmärsche hinter sich gebracht.

Die Schafhaltung und vor allem auch die Tradition des Schafübertriebs aufrecht zu erhalten, ist dabei nicht selbstverständlich. In früheren Jahrhunderten waren die Schafe nicht zuletzt wegen ihrer wärmenden Wolle geschätzt. Doch mit dem Aufschwung von Baumwolle gings abwärts mit der Schafwolle. Spätestens in den 70er Jahren, mit der weiten Verbreitung von Synthetikfasern, war die Wolle immer weniger gefragt. Zum Schluss mussten die Bauern die Wolle gar kostenpflichtig auf dem Wertstoffhof entsorgen.

Diese Entwicklung wollte Manfred Waldner, der beim Tourismusverein Schnalstal arbeitet, nicht hinnehmen. Gemeinsam mit einem befreundeten Designer überlegte er, was sich aus der Wolle machen ließe. Das Resultat: der ipotsch – ein Filzpantoffel aus Wolle der Schnalstaler Schafe. Statt ihre Wolle zu entsorgen, haben die Bauern nun wieder Einnahmen mit der Wolle. Einheimische und Gäste freuts – inzwischen ist die Nachfrage so groß, dass quasi die komplette Schnalstaler Wolle für die Hauslatschen Verwendung findet.

Auch, um die Tradition dieses außergewöhnlichen Schafübertriebs, weiter pflegen zu können, hat ihn Österreich im Jahre 2011 in seine nationale UNESCO-Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen.

Die Schafe schert das wenig: Als wir nach vielen Wegstunden die Weidegründe oberhalb von Vent erreichen, haben sie nur noch Augen und Gaumen für das frische Kräutergras, an dem sie sich nun den ganzen Sommer über laben dürfen. Während sie schon wieder bergauf springen, gehe ich bis hinunter nach Vent weiter.

Bald ist Abend in dem kleinen Bergsteigerdorf. Es ist ganz still, als ich ins Bett gehe. Einzig in meinen Ohren klingt es vehement „Bim-BIM-Bim … mäh-MÄH-mäh“ – Doch schneller, als ich zum Schäfchenzählen komme, schlummere ich ein. – Was für ein außergewöhnlicher Tag am Alpenhauptkamm!

Weitere Info: 

Der Schafabtrieb findet an zwei Wochenenden Anfang September statt. Dann feiern die Bauern, Hirten und Talbewohner traditionell und inzwischen gemeinsam mit vielen Gästen die Rückkehr der Schafe. Mehr dazu beim Tourismusverein Schnalstal.

Mehr über den Schafauftrieb gibt es auch im Blog KulturNatur.

Veröffentlicht in Berge.

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